Über Verzicht und Bewusstsein

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Fee-Gloria Groenemeyer | photographer based in Berlin, New York and Paris | fashion photography | Paris | Parisienne photos: Fee-Gloria Groenemeyer    

Vor vier Tagen hörte mein Handy auf zu funktionieren. Ich verbrachte das Wochenende gerade in Deutschland, um einen Auftritt meiner Schwester zu sehen, und war sechs Stunden aus Österreich angereist, um ihr Musical “Anatevka” zu besuchen. Sobald wir die Grenze hinter uns gelassen hatte, blinkte das Gerät “SIM-Karte für dieses Netz gesperrt” (dabei waren Handy und SIM völlig in Ordnung), und weigerte sich, etwas anderes anzuzeigen, selbst, als wir wieder zurück in Österreich waren. Ich konnte vier Tage lang keine SMS senden und empfangen, Telefonieren war nicht möglich, da ich kein Netz bekam, nur WLAN funktionierte noch – doch in der Ferienwohnung hatten wir keines. Mein Handy war vier Tage lang tot.   Für die Meisten wäre das die erste Stufe des Weltuntergangs, eine kleine Vorhölle, eine Horrorvorstellung deluxe gewesen; Ich fand es eigentlich gar nicht so schlimm. Sicher, ein paar Telefonate hätte ich machen sollen, aber die ließen sich auch verschieben. Die paar verpassten SMS waren auch nicht so wichtig, und in den Telegram-Chats wurde eh nur Belangloses gequatscht. Es war ein bisschen wie Urlaub: ich bin jetzt nicht erreichbar, nur eben unabsichtlich. Nur eines ließ mir keine Ruhe und ließ rastlos in der Wohnung herumtigern: ich wollte die Stimme meines Freundes hören. Er wohnt hunderte Kilometer entfernt, wir sehen uns nur an den Wochenenden, wir sind verliebt, wir vermissen uns – und nun können wir noch nicht einmal telefonieren.

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Da das im-Kreis-laufen offenbar die Denkfähigkeit anregt, kam mir eine Idee: Na klar, ein Münzfernsprecher! Wie romantisch. Aber gibt es die überhaupt noch?   Ich suchte im Kopf die ganze Stadtkarte nach ihnen ab, konnte mich konkret an eine einzige erinnern, aber ob die überhaupt noch da war? Ich zermarterte mir den Kopf nach weiteren Telefonzellen, und nach ein paar weiteren gelaufenen Kreisen fielen mir noch ein, zwei weitere ein. Ich beschloss auf der Stelle, um zehn Uhr abends, das Experiment zu starten, setzte mich in mein Auto und fuhr alle Orte ab, an denen ich Telefonzellen vermutete. Die erste war entfernt worden. In der zweiten hing eine derart imposante Kreuzspinne, dass ich mich partout nicht hineintraute, ihr aufwändiges Netz aber auch nicht mit einem Stock zerstören wollte, nur weil ich zur Tussi mutierte und es keine zehn Minuten neben einem Vieh aushielt, das viel kleiner war als ich. Die dritte Telefonzelle war spinnenfrei und funktionierte. Ich fühlte mich nervös wie damals, als ich als Schülerin von so einem Telefon aus meinen Eltern beichten musste, dass ich den letzten Bus verpasst hatte, und sie mich abholen mussten. (Für die Eltern von Landkindern kann das großen Aufwand bedeuten, schon allein, weil das Heu dann im Dunkeln eingebracht werden muss, oder im Winter erst die Garageneinfahrt mühsam von den Schneemassen freigeschaufelt werden muss.)

 

Ich warf eine Münze ein, tippte mit klopfendem Herzen auf die metallenen Zahlentasten (nur ja nicht vertippen, es gibt keine “löschen”-Taste!) und wartete auf sein rauchiges “Na hallo!”. “Guten Tag, die Nummer, die Sie gerade gewählt haben…” – Mailbox! Wenn ich jetzt auflege, ist nich nur die Münze weg – er hätte einen anonymen Anruf ohne Nummer auf dem Handy. Und zurückrufen geht ja wohl kaum. Also begann ich, seine Mailbox etwas verlegen vollzureden, und erzählte, bis der Zeitablauf mein Gezwitscher abbrach. Am nächsten Tag versuchte er, meine Schwester anzurufen. Um mir das mitzuteilen, fuhr sie von ihrer Wohnung den ganzen Weg bis zu meiner Wohnung, und hängte mir von innen einen Zettel an die Wohnungstüre, auf den sie ebendas geschrieben hatte. Als ich den Zettel fand, lief ich sofort wieder zur Telefonzelle, dieses Mal mit mehr Münzen, und er und ich konnten selige Minuten lang unser Ohr mit der geliebten Stimme fluten. Selten haben mich Glücksgefühle beim simplen telefonieren so durchrauscht wie da, in dieser kahlen Telefonzelle. Da erst begriff ich, wie wertvoll diese Telefonate mit ihm waren: es war, als ob wir uns in den Armen liegen würden, hunderte Kilometer von einander entfernt.

 

Jedes Wort eine Umarmung, jeder Atemzug ein Kuss.

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Am vierten Tag, nachdem mein Handy aufgehört hatte, zu funktionieren, wurde es im Handyshop wieder zum Laufen gebracht. Ich konnte wieder telefonieren, SMS schreiben, alles, was ich wollte. Die Flut an Nachrichten brach wieder los. Aber irgendwie war es die Tage davor schöner gewesen.   Ich war kreativer gewesen, sogar mein Umfeld war, um mit mir in Kontakt zu treten, kreativer geworden und meine Schwester hatte noch dazu Aufwand auf sich genommen. Ich war entspannter gewesen, fokussierter, und ich hatte mir überlegt, was ich zu sagen hatte und wie, um wertvolle Zeit nicht zu vergeuden. Ich war, wenn man so will, in meiner Kommunikation klarer, und wesentlich effektiver gewesen.   Ich hatte besser erkannt, was mir wichtig war, und insbesondere, wer mir wichtig war. Ich hatte Aufwand und Umständlichkeiten auf mich genommen, ohne auch nur einen Wimpernschlag lang darüber nachzudenken. Ich hatte besser erkannt, wer mir die Zeit, den Aufwand und die Umstände wert war. Ich hatte meine Zeit nicht nicht mit Belanglosigkeiten und billigen Ablenkungen gefüllt. Ich war – bewusster gewesen.

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Und dieses Bewusstsein, diese Klarheit, die ist es, die uns oft fehlt.   Wir merken es oft nicht einmal, weil wir müde sind, meinen, beschäftigt zu sein, oder weil wir einfach der Meinung sind, uns jetzt entspannen zu wollen, und deshalb unsere Aufmerksamkeit von billigen, aufmerksamkeitsheischenden Ablenkungen so bereitwillig auf sich ziehen lassen. Ich bin wohl nicht die einzige, die – eigentlich müde – die halbe Nacht vor Youtube oder mit dem Durchklicken von Bildern verbracht hat, dem Ausfüllen wertloser Psychotest-Spielchen oder im Pinterest-Meer beinahe fortgeschwemmt worden wäre.   Wenn uns Dinge wichtig sind, sind wir bereit, dafür großen Aufwand und beträchtliche Unbequemlichkeiten, einige Anstrengung und total Umständliches hinzunehmen. Wir bemessen die Wichtigkeit, den Wert, die es für uns hat, und richten das Maß unserer Anstrengungen danach aus. Mehr Wichtigkeit ergibt mehr Anstrengung.   Oft fällt uns dabei gar nicht auf, dass der Wert des Menschen oder der Sache für uns steigt, je mehr wir hineininvestieren – mehr Mühe erzeugt mehr subjektiven Wert, also auch mehr Wertschätzung! Je mehr wir also in den Menschen, die Sache (die Prüfung, den Blog, den Wettkampf,…) investieren, desto wichtiger und wertvoller erscheint er/sie/es uns. Immer, wenn sich die Anstrengung „auszahlt“, freuen wir uns viel mehr als sonst darüber: je höher die Anstrengung, desto schöner, stärker und wertiger ist dieser, unser Erfolg. Sei stolz darauf, du hast es geschafft! Und ja – sogar dieser Stolz ist größer.     Vivien Fee-Gloria Groenemeyer | photographer based in Berlin, New York and Paris | fashion photography | Paris | Parisienne

Über die Autorin: Vivien, 28, aus Österreich, wollte eigentlich Kunst studieren, eine Modeschule besuchen und nebenbei noch Tschechisch-Dolmetscherin werden. Nachdem sie aber die Kriminalistik am allermeisten liebt, wurde sie Polizistin und arbeitet als operative Kriminalanalytikerin. Sie mag Literatur und Sprachspielerei, schreibt unvollendete Alltagsgeschichten und hat ein Problem damit, sich kurz zu fassen, was sie Masha in ihren ausgedehnten Outfitanalysen spüren lässt. Sie träumt von Ann Demeulemeester und Barbara I Gongini, würde sich am liebsten täglich von Kopf bis Fuß in Schwarz und Grau wickeln, investiert in Lena Hoschek und geht darin freudestrahlend in die Arbeit. Sie trägt, was ihr gefällt, und ist damit wie sie ist: ein bisschen verrückt, ein bisschen mutig, ein bisschen unkonventionell, und immer voller fröhlicher Ideen. Vielleicht startet sie doch irgendwann noch einen Blog – zum Beispiel über Mode, Morde und den Stil der Mörderjäger?

 

Über die Fotografin: Fee-Gloria Groenemeyer ist gebürtig aus Wiesbaden und ist zum Modeln (ja, sie sieht auch noch gut aus!) nach NYC gezogen, wo sie ihre Leidenschaft für die Fotografie und Mode entdeckt hat. Nach NYC ist sie nach Paris gezogen, wo sie Mode Management studiert hat und sich parallel auf die Fotografie fokussierte. Mittlerweile ist sie hauptberufliche Fotografin, fotografiert am liebsten stimmungsvolle Portraits und pendelt zwischen Berlin, New York und Paris. Der kreative Kopf liebt das Reisen und Erkunden und baut zur Zeit ein Netzwerk aus Stylisten, Visagisten und Künstlern, mit denen sie gemeinsam coole neue Projekte umsetzt. Sie hat eine wirklich beeindruckende Biographie und das mit (Achtung!) grade mal 22 Jahren! Sie ist also so ziemlich das, was man ein Wunderkind nennen würde und ich bin mir sicher, dass wir noch einiges von ihr hören werden! Hier geht’s lang zu ihrem Instagram.

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