Kurzgeschichte: Grün oder Rot?

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The ultimate dress by Masha Sedgwick | evening dress: Escada | shooting location: Hotel Zoo | photographer: Fee Gloria Groenemeyer

“Welches soll ich nehmen?”   Manchmal stehen wir in unserem Leben vor wichtigen Gabelungen des Lebens, die entscheiden, ob der Weg, dem man jetzt wählt nach rechts oder nach links gehen soll, ohne dass es ein Zurück gibt. Es sind diese Momente, an die man sich für immer erinnern würde und es sind Entscheidungen, die den Rest unseres Lebens beeinflussen. Diese Frage war so eine wegweisende Entscheidung, ganz eindeutig war das hier so eine: Welches Kleid soll ich nehmen?   Grün oder Rot? Rot oder Grün oder doch Rot?   Tief einatmen und bloss nicht in Panik verfallen. Leichter gesagt, als getan, schließlich sprechen wir hier nicht von irgendeinem Kleid, sondern dem Kleid, das sie zur Party des Jahres anziehen würde und, was noch wichtiger war, ER würde auch da sein.   ER war Niemand Geringeres, als der Mann ihrer Träume, ein intelligenter, gut aussehender Mann mit einem fabelhaften Humor – und Single! Die Frage ist zwar WARUM das noch so ist, aber manchmal muss es auch glückliche Momente im Leben einer Singlefrau in einer Großstadt geben und das hier war so einer. Es gibt ihn also doch, den perfekten Mann und sie würde ihn heute treffen. Ihre Aufgabe bestand einfach darin so hinreissend auszusehen, dass er gar nicht anders konnte, als sich gnadenlos in sie zu verlieben. Gut, dass sie sich keinen Druck machte oder so. Manche sollten sich fragen, ob wirklich alles von einem Kleid abhing? Die Antwort war einfach: Ja.

Grün oder Rot? Rot oder Grün oder doch Rot?   Das Grüne war wunderschön und es stand ihr perfekt. Es umspielte ihre Figur und fühlte sich so wunderbar sanft an auf der Haut. Sie liebte die Farbe, den Schnitt, aber war es auch das Richtige für den Anlass? Schließlich würde sie heute Abend ihn treffen, den Mann ihrer heimlichen Träume. Die Frage lautete doch eher: würde ER finden, dass es das richtige Kleid war?   Grün oder Rot? Rot oder Grün oder doch Rot?   Rot. Rot ist sexy, rot ist verheissungsvoll und rot vermittelt eine klare Botschaft. Außerdem hatte das Rote einen schönen seitlichen Schlitz, der das Bein freilegte, vorausgesetzt, man wollte es und in ihrem Fall wollte sie es unbedingt. Das Rote sollte es sein, denn, und das war ja wohl das Wichtigste: mit dem roten würde er sie nicht einfach so übersehen können. Niemand könnte das. Also, rot.   Sie täuschte sich nicht. Die Blicke der Männer reichten von gierig bis hin zu bewundernd und sie gaben ihr ein gutes Gefühl des Begehrens und mal ernsthaft: welche Frau fühlt sich nicht gerne begehrenswert? Eben.

The ultimate dress by Masha Sedgwick | evening dress: Escada | shooting location: Hotel Zoo | photographer: Fee Gloria Groenemeyer The ultimate dress by Masha Sedgwick | evening dress: Escada | shooting location: Hotel Zoo | photographer: Fee Gloria Groenemeyer

Dieser Raum schien nur ihr allein zu gehören und sie sollte sich nicht täuschen: Niemand würde sie übersehen können und Niemand übersah sie. Niemand, außer Einer. Und ausgerechnet wegen diesem Einen hat sie den ganzen Zirkus veranstaltet.   Plötzlich schien sie sich unwohl zu fühlen, jeder im Raum schien sie anzustarren und zu belächeln. Plötzlich erschien ihr alles klein: der Raum, die Party und vor allem sie selbst. Ihr Herz brach vor in Stücke und selten fühlte sie sich so allein, wie in diesem Raum voller Menschen. Vermutlich war es das eigenartige Gefühl, dass sie nichts mehr zu verlieren hatte, das sie dazu trieb ihre Hüllen fallen zu lassen und ihm die eine Frage zu stellen, die ihr auf der Zunge brannte.   Gedated haben sie eigentlich nie, denn ein Date würde voraussetzen, dass man sich zu Zweit getroffen hätte, ganz alleine, doch das ist nicht passiert. Stattdessen gab es nur Treffen in der Clique, hier mal ein heimlicher Blick, dort mal eine kurze Berührung, doch nichts, was einen Einblick in sein Gefühlsleben erlaubt hätte. Kein tiefer Blick, kein Augenblick. Er war ein Buch mit sieben Siegeln und vielleicht war es genau das, was sie so an ihm reizte. Er war nicht wie die Anderen, nicht leicht durchschaubar und scheinbar auch nicht empfänglich für ihre Flirtversuche. Und bekanntlich will man immer das, was man nicht kriegen kann. Doch war es wirklich so einfach?

Ihre Gefühle waren eine einzige Achterbahn, die auf einen einziges Ziel zusteuerten – den Augenblick, als sie ihm diese eine einfach Frage stellte:   „Findest du mich eigentlich attraktiv?“

dresses: Escada shoes: Jimmy Choo   location: Hotel ZOO, Grace Bar pictures: Fee-Gloria Groenemeyer

Sie sah zuerst die Überraschung in seinen Augen, dann kam ein zögerlicher Blick, ein ewiges, nachdenkliches Schweigen und dann die alles entscheidende Antwort:   „Du bist eine attrative Frau, ganz ehrlich, und ich würde mich freuen mit dir weiterhin befreundet zu sein.“   Seine Antwort traf sie mit voller Wucht, wie ein Schlag ins Gesicht, eine unsichtbare Ohrfeige. Ihr Gesicht fühlte sich plötzlich ganz warm an, ihr Körper taub und sie schien keine Luft zu bekommen. Die Sekunden fühlten sich an wie eine Ewigkeit und dennoch brauchte sie nur einen Wimpernschlag um sich wieder zu fangen. Sie würde jetzt nicht die Fassung verlieren. Nicht jetzt. Nicht hier. Nicht in diesem roten Kleid.

Sie schaffte es irgendwie ihre Mundwinkel hochzukrümmen und zwang sich zu einem Lächeln, das mehr einer Fratze, als einem Lächeln ähnelte, doch wer würde schon groß hinterfragen und hey, er hat sich immerhin bemüht die Abfuhr nett zu verpacken. Es gab eindeutig schlimmere Abfuhren, doch es war was es blieb: eine Abfuhr. Eine richtig fette Abfuhr, die ihr sagte: „selbst in dem sexiesten Kleid weit und breit will ich dich nicht daten.“   „Das hast du aber hübsch formuliert.“ schaffte sie es noch zu sagen, vielleicht eine Spur zu bissig, bevor sie sich umdrehte, denn viel länger konnte ich sie ihre Fassade nicht aufrecht halten. Sie wollte das Drama eigentlich nicht in ihr Leben lassen, aber es schlich sich eben doch ab und zu hinein. Sie stolzierte davon, ohne ein weiteres Wort und verließ die Party des Jahres, über die jeder später sprechen sollte, nicht zuletzt wegen des dramatischen Abgangs einer gewissen Dame in einem roten Kleid. „Weisst du was da passiert ist?“ würden sich die Gäste später fragen, doch Niemand würde die Antwort kennen.

The ultimate dress by Masha Sedgwick | evening dress: Escada | shooting location: Hotel Zoo | photographer: Fee Gloria Groenemeyer

Die Tage vergingen, später auch die Wochen und sie hörten nichts mehr voneinander. „Get over it!“ sagte sie zu sich selbst, befahl es sich regelrecht und sie beschloss sich die Abfuhr nicht zu sehr zu Herzen zu nehmen. Ja, sie war in den Typen verliebt, er nicht in sie, aber das war schon ok so. Man kann schließlich nicht alles, und vor allem nicht jeden haben im Leben. Und was bleibt einem übrig, als diese einfache Wahrheit für sich zu akzeptieren?   Gleichzeitig waren seine Worte eine Befreiung. Wozu sich noch weiter reinhängen, wenn er sie nicht mal in dem roten Kleid begehrenswert fand? Eben. Irgendwie half ihr dieser kleine Aspekt der Geschichte die Tatsachen hinzunehmen und ihre Fassade weiterhin aufrecht zu halten. Sie würden sich weiterhin zwar begegnen, es war unvermeidbar, doch sie würde damit umgehen können. Es kam wie es kommen musste: sie trafen sich, mal im Vorbeigehen, mal im Lieblingscafe. Er wurde ihr nicht egal, nicht so ganz, aber das anfängliche Gefühl der Verletzung und Abweisung legte sich und es gelang ihnen tatsächlich ab und an ein Gespräch, wenn auch kein tiefergehendes, denn die Sache war schließlich klar. Es war ihre Frage – und seine Antwort – die einer Freundschaft das Genick brach, noch bevor sie entstehen konnte.   Während sie zuvor noch wenige Sekunden später auf seine SMS geantwortet hatte, wurden daraus Stunden, manchmal Tage. Das war nicht mal eine Hinhaltetaktik, sondern er verlor seine Bedeutung für sie und wurde zu einem dieser Menschen, denen man, wenn man ihnen begegnet flüchtig Hallo sagt, doch die eigentlich nur irgendwer sind in diesem Großstadt-Universum voller Irgendwers. Alles, was blieb, war die Erinnerung an eine legendäre Party.   Doch es sollte nicht die Letzte sein….

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Rot oder Grün? Grün oder Rot oder doch Grün?

In diesem Jahr stellte sich die Frage nicht mehr, denn es gab keine dramatische Entscheidung, keine Weggabelung und keine Intention. Sie würde das Grüne nehmen, denn das Grüne, das war sie.   Vielleicht war sie keine Sexbombe, vielleicht war sie etwas kompliziert und ja, vielleicht auch ein Nerd, aber das war sie eben. Das machte sie aus. Und wenn sie etwas gelernt hatte, dann das: es bringt nichts sich zu verstellen. Wenn dich jemand nicht so toll findet, dann hilft selbst kein sexy rotes Kleid.

Grün. Das stand für Hoffnung und die hatte sie wieder. Hoffnung, dass der Mann ihrer Träume, wer auch immer das sein würde, sie vielleicht auch in einem grünen Kleid bemerken würde. Und dass er sie so mögen würde, wie sie nunmal war.     Plötzlich sah sie ihn und ihre Blicke begegneten sich. Es war nun einige Monate her, seit sie sich das letzte Mal begegnet sind. Er kam auf sie zu. „Du siehst wirklich wunderschön aus!“ sagt er. „Grün steht dir einfach viel besser als rot“. Sie musste lächeln. „Und findest du mich jetzt attraktiv?“ „Ich fand dich die ganze Zeit attraktiv, aber du hast damals die falsche Frage gestellt“   Sie sah in seine Augen und sah zum ersten Mal ein Feuer darin lodern. Und es loderte nur für sie.

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