Ich nenne ihn “der Sessel”. Mit Betonung auf “Der”, denn mit “der Sessel” ist keinesfalls ein beliebiges Möbelstück in unserer Wohnung gemeint, sondern ein ganz bestimmter Sessel im Schlafzimmer, der seiner ursprünglichen Funktion als Lesesessel schon lange nicht mehr dient oder besser: nie gedient hat. Stattdessen wurde er zur Abstellfläche und Lagerfläche für die Klamotten meines Freundes degradiert und ist – zu meinem Leidwesen – der Inbegriff von Chaos.
Ich will ehrlich sein: der Sessel ist mir ein Dorn im Auge.
Warum ist er immer so voll beladen mit, mir fällt kein anderes Wort dafür ein, Scheiss?
Er wurde zur Übergangslösung zwischen Wäschekorb und Kleiderschrank erklärt und so landen auf ihm all die Kleidungsstücke, die nicht mehr ganz frisch sind – aber eben auch noch nicht ganz dreckig, so wie teilweise noch anderer Kram. “Diese Hose – die kann man doch noch tragen!” heisst es dann. Die Begründung, warum diese Hose dann nicht im Schrank hängt lautet dann, dass sie sich nicht mit den frischen Sachen vermischen soll. Als würden die getragenen Teile sofort einen Duft ausströmen, der sich bei den anderen Sachen festsetzt und niemals rausgeht. Als wären ‘eigentlich-saubere-Sachen-aber-eben-nicht-mehr-so-ganz’ obdachlos und hätten deswegen kein Platz – außer dem Sessel, wo sie dann tagelang zum “Lüften” rumliegen. Oder die Tasche, deren Inhalt immer nur halb ausgepackt um den Sessel drumherum liegt.
Was soll das?
Ich hasse diesen Sessel.
Doch leider sehe ich zum Sessel kaum echte Alternativen:
Ein Korb? Funktioniert nicht. Eine Kiste? Eine Kommode? Ein Kleiderständer? Haken? Alles nicht das Richtige. Aber ja, vermutlich bin ich selbst Schuld an der Misere. Was habe ich mir damals dabei gedacht einen Sessel ins Schlafzimmer zu stellen? So als würde ihn jemals irgendwer benutzen. Im Schlafzimmer liegt man – wer sollte sich dort also hinsetzen? Vermutlich ist das so eine Sache mit dem Sessel, die von Generation zu Generation weitergetragen wird. Mein Vater hatte einen Stuhl und mein Großvater vermutlich auch. Vielleicht ist der Stuhl nicht nur generations-, sondern auch kulturübergreifend. Vielleicht gibt es den Sessel nicht nur bei mir in Berlin, sondern auch in Indien, Namibia, Schweden und selbst im Marie-Condo-Land Japan. Vielleicht ist der Sessel das verbindende Element zwischen uns, etwas auf das wir uns alle einigen können.
Vielleicht gab es sogar damals, als Menschen noch in Lehmhütten lebten, einen Ablagestuhl. Nun hat also auch der Sessel meiner Generation seine Berufung als Zwischenstation gefunden, perfekt gelegen im Bermudadreieck zwischen Wäschekorb, Bett und Kleiderschrank.
Obwohl auf diesem Sessel alles auf einem Haufen verschwindet, ist der Sessel gleichzeitig auch safe space und immun gegen meine Wegräumwut. Wir haben uns schließlich auf diesen Sessel als “sein Sessel” geeinigt und damit ist der Sessel für mich unantastbar. Er ist wie das Gelände, auf dem sich eine Botschaft befindet, nicht exterritorial, doch unter besonderem diplomatischen Schutz und vielleicht ist es das, was mich so nervt. Ich darf da nicht ran. Ich muss es aushalten. Er ist ein Mahnmal der Imperfektion und mein Lehrer der Geduld. Aber vielleicht hält er das Gleichgewicht auch im Lot. Vielleicht braucht es einfach einen Sessel im Schlafzimmer, um Ordnung halten zu können.
Oh Masha, ich musste so doll schmunzeln und grinsen als ich den Text gelesen habe. Wir haben auch so einen Stuhl. Vorher war es nur der Boden, die Ecke hinter der Tür, die man zum Glück nie sieht. Das war schrecklich für mich und dann habe ich ihm einen alten Stuhl umgestrichen, darauf liegt nun alles. Für mich ist es wie der Endgegner, jedes Mal wenn ich daran vorbeilaufe, drunter saugen muss, bekomme ich ne halbe Krise. Aber ich weiß, ich darf da nicht ran. I feel u :D wir schaffen das, du bist nicht alleine. Da draußen gibts noch mehr Stühle, Sessel und Hocker die ein ähnlich trostloses Dasein haben und gleichgesinnte die jedes Mal wieder tief einatmen müssen bei diesem Anblick ;)
Den Sessel habe ich auch, aber für mich, nicht für meinen Freund :D Er ist tatsächlich nicht schön anzusehen, aber nach einem langen Tag die optimale Lösung, um seine Klamotten schnell abzuladen. Ich versuche ihn einfach aller 2-3 Tage zu leeren.