“Ich glaube, ich bin neidisch auf dich, weil du deine Sexualität so unbedarft erkunden konntest. Das konnte ich nie.”
Bäm. Ein Satz, der beim Aussprechen weh tat, als ich ihn zu David sagte. Diesen Moment in der Paartherapie habe ich wirklich nicht kommen sehen.
Denn die Erkenntnis, die mit diesem Satz einherging, überraschte mich, weil sie so unerwartet kam und mein Bild über mich selbst komplett in Frage stellte.
“Können wir machen, wenn du das möchtest” und “Ja, lass uns das probieren” waren typische Sätze von mir, wenn es um Sex ging.
Auf keinen Fall wollte ich die verklemmte Freundin sein, mit der man seine Wünsche nicht ausleben kann. Stattdessen dachte immer ich sei total offen und entspannt mit meiner Sexualität. Und scheinbar war mir das so wichtig, dass ich Gleichgültigkeit mit Offenheit verwechselte.
Es war nämlich nicht so, dass ich von mir aus sonderlich offen oder neugierig war, sondern ich war kalkuliert. Ich habe zum ersten Mal erkannt, dass bei meiner eigenen Sexualität nicht mein Spaß im Vordergrund stand (wie ich bis dahin immer dachte), sondern der Zweck.
Sex war nämlich auch immer ein Machtinstrument für mich. Ein Mittel, um mein Ziel zu erreichen. Sei es, um meinen Partner glücklich zu machen, damit er mich nicht verlässt oder um eine intensivere Beziehung zu mir aufzubauen. Ein bisschen wie ein Tauschgeschäft: ich schenke dir guten Sex und dafür bleibst du bei mir.
Der springende Punkt ist: es ging nicht um mich und meine Bedürfnisse, sondern die meines Gegenübers und auch darum diese (auch in meinem eigenen Interesse) zu befriedigen. Das bedeutet nicht, dass ich keinen Spaß hatte, nur dass Spaß nicht an oberster Stelle stand. Und irgendwie war das so selbstverständlich für mich, dass ich nicht weiter darüber nachdachte.
Als mich diese Erkenntnis dann wie ein Schlag traf, habe ich mich schrecklich geschämt.
Ist das nicht manipulativ und anrüchig?
Irgendwie schon. Und irgendwie habe ich mich auch gleichzeitig gefragt, ob ich jemals eine andere Wahl hatte. Ich bin oft über meine Grenzen gegangen oder besser: gegangen worden, dass ich gar nicht so genau weiss, wo meine Grenzen tatsächlich liegen.
Wo hört die Lust auf und beginnt die Gleichgültigkeit?
In welchen Situationen war mein Körper mehr ein Instrument, das ich benutzte um Bindung herzustellen?
Was gefiel mir persönlich und was habe ich gemacht um Bedürfnisse zu bedienen, die gar nicht meine sind?
Und ist es vielleicht gar nicht so normal, irgendwann einfach Busfahrpläne im Kopf durchzugehen, wenn der Sex schlecht ist, statt es einfach abzubrechen, weil man keine Lust mehr empfindet?
Ich habe mich vorher gar nicht getraut mir diese Fragen ersthaft zu stellen. Um ehrlich zu sein, will ich sie mir bis heute nicht beantworten, weil die Antworten darauf so frustrierend sind.
Und das sind sie vermutlich nicht nur bei mir, denn ich könnte mir vorstellen, dass ich mit dieser Herausforderung nicht alleine bin.
Denn: Sex ist für uns Frauen erstmal prinzipiell gefährlich oder zumindest viel gefährlicher als für Männer.
In der Umgebung in der ich aufgewachsen bin, wurde Sex für Frau extrem stigmatisiert. Einfach nur Spaß an der Sache? Schon bekommt man einen Stempel aufgedrückt. Viele Partner? Stempel. Ungewöhnlichere Experimente? Stempel.
Der Preis für ein freies Erkunden seiner Sexualität schien mir zu hoch.
Doch es waren nicht nur die Stempel und die damit einhergehenden Stigmata, sondern es ist de facto gefährlich. Jeden Tag gibt es in Deutschland einen polizeilich registrierten Tötungsversuch an einer Frau, der meist vom Partner ausgeht. Sich also auf einen Mann einzulassen, kann also im schlimmsten Fall lebensgefährlich sein.
Klar, die Wahrscheinlichkeit ist nicht so hoch, aber die meisten Frauen haben dennoch ein Bewusstsein für diese Gefahr und möglicherweise fühlen sich viele deswegen nicht so frei in ihrer sexuellen Entfaltung wie Männer.
Sprechen wir also erneut von einem strukturellen Problem, das im Kern aus unserer patriarchalen Gesellschaft entstanden ist?
Ist mir deswegen die Kontrolle so wichtig?
Um dem Gefühl der Ohnmacht etwas entgegensetzen zu können?
Doch es gibt noch einen weiteren Faktor:
Denn da ist da noch die Kultur mit der ich aufgewachsen bin. Ich kann nicht sagen, ob das allgemein ein Ding ist oder ob es nur auf mich zutrifft, aber aufgrund meiner kulturellen Prägung sehe ich zwei Probleme.
Als Frau mit osteuropäischen Wurzeln begegnete ich vielen Klischees, die sich auf Sex mit Osteuropäerinnen bezogen. Ich bin mit dieser Fetischisierung schon früh in Kontakt gekommen, denn sobald sich meine Wurzeln offenbarten, begegnete ich einer Erwartungshaltung wie zB. „Gut im Bett“ und „versaut“ und „leicht zu haben“. Die Motivation mit mir zu schlafen hat sich in dem Moment merklich erhöht.
Aber woher kommt das?
Ich habe mal eine ganz gute Erklärung dafür gelesen. Nach dem Zerfall der UdSSR wurden das Bild der osteuropäische Frauen mit Sexarbeit verknüpft. Das lag nicht zuletzt am (illegalen) Sexhandel, der Frauen aus Osteuropa weltweit zu Sexobjekten machte. Da sind diese Frauenvermittlungsagenturen noch die harmloseste Variante. Sendungen wie „Traumfrau gesucht“, wo Incels ihr Glück in Osteuropa versuchten, taten ihr Übriges um diese ekelhaften Klischees zu befeuern.
Diese Objektifizierung prallte auf meine Naivität und hinterließ viele Narben auf meiner Seele. Wenn Männer dich nicht wie einen Menschen mit Gefühlen behandeln, sondern dich benutzen, wird Sex automatisch zum Mittel.
Gleichzeitig bin ich mit Glaubenssätzen aufgewachsen, die mich denken ließen, dass ich mir als Frau besonders viel Mühe geben sollte, um einen Mann zu halten. So als würde er bei der erstbesten Gelegenheit weglaufen, wenn ich nicht eine erfolgreiche, kluge, schöne und sportliche Sex-Granate bin. Bei meiner Männerwahl hingegen sollte ich nicht zu wählerisch sein. Männer, die halbwegs zurechnungsfähig sind und ihre Frauen nicht schlagen, galten in meiner Wahrnehmung bereits als Jackpot. Diese Glaubenssätze habe ich von einer Nachkriegsgeneration übernommen, in der bis heute die Balance aus Männern und Frauen in der Gesellschaft unausgeglichen ist.
Schlechte Vorraussetzungen also, um unbedarft seine Sexualität zu erkunden.
Leider kann man die Zeit nicht zurückdrehen und alte Erfahrungen rückgängig machen. Aber man kann Neue schaffen. Und vielleicht habe ich durch diese Erkenntnis den ersten Schritt auf dem Weg einer aufregenden Erkundungsreise bereits getan.*
*Dieser Text ist kein Aufforderung für zwielichtige Angebote und Dickpics.