Ich bin nicht mehr, wer ich war.

Anzeige

Es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, wie viele Jahre genau weiss ich gar nicht mehr und obwohl sie noch immer genauso aussieht wie damals, sieht sie trotzdem ganz anders aus, erwachsener irgendwie, aber kaum älter. Mit dieser feinen Andeutung von kleinen Fältchen um Mund und Nase erkennt man die Ähnlichkeit zu ihrer Mutter noch deutlicher, doch vor allem sind es die Augen, die sich verändert haben. Sie haben nicht mehr dieses begeisterte und jugendliche Leuchten von früher, als wir gemeinsam um die Häuser zogen, sondern scheinen irgendwie getrübt und härter mit der Zeit.

Trennung, Schmerz, Enttäuschung – all das hat Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen, auf das ich früher so neidisch war.

Heimlich habe ich sie für ihre schön geformten Lippen und ihre langen Wimpern beneidet und wie wunderschön sie aussah, wenn sich ihr Mund zu einem breiten Lächeln formte, der nach oben hin fast bis zur Nasenspitze reichte und ihre perfekt aneinandergereihten Zähne offenbarte, während die dunklen Haare ihr Gesicht umschmeichelten.

Wir holen die letzten Jahre auf, erinnern uns an Vergangenes, doch während wir reden, schenkte sie mir noch keins ihrer breiten Lächeln, das sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt hat und an das ich mich immer wieder erinnere, wenn ich an sie denke. Ich bemerke, wie ich es vermisse, aber auch, wie sie nicht mehr der Mensch ist, an den ich mich bis heute gerne erinnere.

Autumn Fashion Editorial | Masha Sedgwick, blogger from Berlin | style: moody, happy, falling leaves, fall, sea, rough, silent, | wearing: Topshop cowboy boots, Arket grey sweater, Riani cognac brown flared wide leather pants | 2019
Autumn Fashion Editorial | Masha Sedgwick, blogger from Berlin | style: moody, happy, falling leaves, fall, sea, rough, silent, | wearing: Topshop cowboy boots, Arket grey sweater, Riani cognac brown flared wide leather pants | 2019

Zwischen uns liegt eine unausgesprochene Distanz, die mir, je länger wir miteinander sprechen, umso unüberwindbarer erscheint.
Ich frage mich, ob sie in diesem Moment ebenfalls versucht den Kontrast aus der einstigen, fast schwesterlichen Nähe und dem traurigen Gefühl, dass der Alltag uns zu zwei Fremden geformt hat, zu bewältigen.
Vielleicht hätten wir uns nicht wiedersehen dürfen, damit das Bild, das wir voneinander im Herzen tragen, weiterhin so erhalten bleibt, wie wir es in Erinnerung haben?

Realitycheck went wrong.

“Du bist irgendwie ganz anders als früher.” sagte sie plötzlich und ich fühle mich irgendwie ertappt. Vermutlich weil es genau das ist, was ich auch denke.
Scheint, als wären wir uns hier wenigstens einig.

Unser Leben könnte aktuell vermutlich unterschiedlicher nicht sein:
Sie lebt im Vorort, ich in der Großstadt.
Sie plant ihre Hochzeit, ich meine Karriere.
Sie fährt Auto, ich lieber Bahn.
Sie liest Belletristik, ich höre Sachbücher.
Sie ist genervt, ich protestiere.

Autumn Fashion Editorial | Masha Sedgwick, blogger from Berlin | style: moody, happy, falling leaves, fall, sea, rough, silent, | wearing: Topshop cowboy boots, Arket grey sweater, Riani cognac brown flared wide leather pants | 2019

Es ist ein bisschen so, als würden zwei Welten aufeinanderprallen und ich frage mich: War das eigentlich schon immer so und ich habe es einfach nicht wahrgenommen, weil ich damals nur die Gemeinsamkeiten und nicht die Unterschiede sah?

Vermutlich hat sie Recht:
Ich habe mich verändert.
Sie hat sich verändert.

Oftmals finden Veränderungen in so kleinen Schritten statt, dass man es selbst kaum merkt, wie sehr man sich gewandelt hat, bis man jemanden trifft, den man seit einigen Jahren nicht mehr gesehen hat oder alte Fotos, Videos oder Briefe findet, die ein Abbild dessen zeigen, wer man mal war.
Bin ich noch dieselbe Frau wie vor 10 Jahren?
Ganz klar: Nein.
Ist sie es noch? Auch nicht.

Ich traue mich nicht, sie zu fragen, ob es ihr genauso geht und ob das der Grund ist, warum sie mir keins ihrer schönen Lächeln schenkt. Ich suche nach dem Band, das uns zusammen hielt und kann es nicht greifen.

Wir sind Fremde. Auch sie rechnete scheinbar mit jemand Anderem und nun sitzt sie hier mit mir.

Autumn Fashion Editorial | Masha Sedgwick, blogger from Berlin | style: moody, happy, falling leaves, fall, sea, rough, silent, | wearing: Topshop cowboy boots, Arket grey sweater, Riani cognac brown flared wide leather pants | 2019

“Du hast dich echt krass verändert” und in ihrem Ausdruck schwingt ein Vorwurf mit, gepaart mit Enttäuschung.
Doch verändern wir uns nicht alle mit der Zeit?

Ja ich habe mich verändert.
Doch anders, als bei den meisten anderen Menschen, ist meine Veränderung nahezu akribisch festgehalten in Worten, in Bildern, im Internet.

Ich bin nicht mehr dieselbe Masha, die damals noch vor 10 Jahren angefangen hat zu bloggen. Der Herzschmerz, die Partys, die Trauer und Wut – sie sind Teil meiner Biografie – doch seitdem ist viel passiert.
Mit der Erfahrung und der wachsenden Erkenntnis habe ich nicht nur meine Meinung und meine Haltung geändert – ich selbst habe mich verändert.

Beispiele:
Früher bewunderte ich Chiara Ferragni, heute Elon Musk.
Früher fand ich es cool viel zu fliegen, heute meide ich es lieber.
Früher fand ich es cool jeden Trend mitzumachen und auf meine Art zu interpretieren, heute habe ich mich festgelegt.
Früher aß ich gerne Salami, heute verzichte ich auf Fleisch.
Früher hörte ich gerne laute Musik, heute mag ich es lieber sanft.
Früher wollte ich alles haben, heute teile ich lieber.
Früher wollte ich Erfolg, heute suche ich nach Sinn.

Autumn Fashion Editorial | Masha Sedgwick, blogger from Berlin | style: moody, happy, falling leaves, fall, sea, rough, silent, | wearing: Topshop cowboy boots, Arket grey sweater, Riani cognac brown flared wide leather pants | 2019
Autumn Fashion Editorial | Masha Sedgwick, blogger from Berlin | style: moody, happy, falling leaves, fall, sea, rough, silent, | wearing: Topshop cowboy boots, Arket grey sweater, Riani cognac brown flared wide leather pants | 2019


Meinungen und Positionen können sich nur mit der Zeit ändern, sie sollten es sogar. Schließlich machen wir alle neue Erfahrungen, führen spannende, erkenntnisreiche Gespräche und zeigen uns bestenfalls bereit zu einer neuen Einsicht. Das ist es schließlich, was uns prägt. Deswegen ist es egal, wer man mal war, denn es zählt, wer man aktuell ist. Auch deswegen sollten wir anderen Menschen den Raum lassen, sich zu ändern, sich neu zu erfinden und es begrüßen, wenn man zu neuer Erkenntnis gelangt ist, statt für die einstigen Positionen zu verurteilen. Sich offen für Veränderungen zu zeigen ist grundsätzlich etwas Positives.

Gleichzeitig andersherum gedacht:
Warum lassen wir uns so ungerne überzeugen? Warum wollen wir an unserer Position festhalten, selbst wenn wir merken, dass wir eigentlich nicht richtig liegen? Warum fällt es uns so schwer uns zu ändern und uns selbst einzugestehen, dass wir mal Fehler gemacht haben? Warum liegen wir so ungerne falsch, statt dankbar dafür zu sein etwas Neues gelernt zu haben? Warum fällt uns diese Erkenntnis selbst so schwer und warum manchmal noch schwerer sich als Folge dessen zu entschuldigen? Wenn wir doch alle wissen, dass Menschen Fehler machen – warum erlauben wir uns diese Fehler nicht selbst, sondern nur Anderen?


All das geht mir durch den Kopf, als ich sie anschaue und in einen Spiegel schaue, der mir ein verzerrtes Bild meines einstigen Selbst zeigt.
Ich frage mich, ob daher diese Distanz rührt:

Sie erinnert mich an all das, was ich heute nicht mehr bin.

Irgendwann verabschieden wir uns und gehen getrennte Wege.
Zum Schluss hat sie mir doch noch mal dieses breite Lächeln geschenkt und ich habe es für immer in meinem Kopf gespeichert. Ich denke nicht, dass wir uns noch mal wiedersehen, aber man soll ja niemals nie sagen.

Schreibe einen Kommentar zu Masha Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

9 Kommentare

  1. Toller Beitrag, Masha! ? Kann ich in vielen Punkten sehr nachvollziehen.

    Zu deiner Frage, warum sich Menschen so schwer überzeugen lassen, finde ich das hier interessant:

    https://youtu.be/TpD-tH9_DCw

    Hier geht es um den sogenannten Confirmation Bias. Spannendes und zugleich ein wenig frustrierendes Thema! ?

  2. Toller Text und Toller Blogcast, den hab ich gestern schon gehört.

    Ich kenne das und irgendwie ist es auch jedes Mal schmerzhaft. Aber es ist auch gut so. Es wäre ja auch irgendwie schlimm, wenn wir uns so gar nicht verändern würden ;)

    Liebe Grüße,
    Fiona

  3. Wirklich sehr schöner Text! Ich finde es schade das Veränderung oder Entwicklung oft von vielen negativ behaftet werden. Ich bin nicht der selbe Mensch wie vor fünf Jahre und ich bin sehr froh darüber! Man fällt auf die schanize, lernt dazu, tauscht sich aus und das alles geht nicht spurlos an einem vorbei. Ich finde Stillstand viel schwieriger als Veränderung. Manchmal treffe ich alte Freunde und habe das Gefühl sie sind irgendwann stehen geblieben und man selbst eben nicht, dass tut mir dann immer irgendwie leid.

    1. Man lernt eben dazu, weitet Grenzen weiter aus, lernt sich auch selbst besser kennen.
      Aber ich weiss was du meinst mit dem Stehen-bleiben. Mir tut sowas auch leid, allerdings habe ich selbst auch Angst davon betroffen zu sein.

  4. Das berührt mich echt, nicht nur weil es so schön geschrieben ist, sondern auch, weil so viel wahres in den Aussagen steckt. Schon verrückt wie das Leben so spielt. Danke für den (mal wieder) wirklich gelungenen Beitrag!

  5. Schön, traurig und vorallem wahr. Danke für den schönen Beitrag, er erinnert mich an einige Menschen, bei denen es mir genauso geht. Ich frage mich auch oft, ob es besser ist, die schönen Erinnerungen beizubehalten als mit neuen zu überdecken? Man wird es nie 100% wissen…